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"Zwietracht im Volk" (Joh 7,43): "Die Juden" im Johannesevangelium und in Bachs Johannespassion

Veranstaltung 04. April 2025

Vortrag am 26. März 2025 in der Marktkirche in Hameln

Am 04.04.2025, 23:29 Uhr

Superintendent Dr. Stephan Vasel erklärte kenntnisreich die Hintergründe für die Judenfeindlichkeit in der Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Foto: Harald Langguth

Hamelner Kantorei: Choral „O hilf, Christe, Gottes Sohn“ (Nr. 37 aus: Johannes-Passion BWV 245.2) (Religion als Sprung in der kulturellen Evolution)

 

Religion als Sprung in der kulturellen Evolution

Was Religion ist, wird zuweilen recht unterschiedlich gesehen. Hohe Resonanz hat aktuell eine Beschreibung des israelischen Historikers Yuval Noah Harari (* 1976). Und die ist an einigen Stellen durchaus überraschend. Er glaubt zwar persönlich nicht an Gott, aber für ihn ist die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und sich dadurch mit anderen Menschen zu verbinden, der wesentliche Punkt in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die uns von unseren Vorfahren unterscheidet. Die Erzählung, so schreibt er, „war die erste bedeutende Informationstechnologie der Menschheit. Sie legte den Grundstein für Kooperation in großem Stil und machte den Menschen zum mächtigsten Tier der Erde“ (Nexus, 85).

Schimpansen zum Beispiel können Gruppen mit etwa zwanzig bis sechzig Individuen bilden, in seltenen Fällen bis 150 oder 200. Bei den Neandertalern und den frühen Homo Sapiens war es ebenso. Und dann kam ein evolutionärer Sprung: „Um zusammenarbeiten zu können, mussten sich die Sapiens nicht mehr persönlich kennen – es reichte, wenn sie dieselbe Erzählung kannten“ (Nexus, 59).

Der Begriff Erzählung ist dabei sehr weit gefasst. Gemeint sind „intersubjektive Gebilde wie Unternehmen, Währungen, Götter und Nationen“ (Nexus, 401). Und das durch Erzählung verbundene Netzwerk bringt Dinge zustande, die für einen einzelnen Menschen nicht möglich wären: „Den Bau von Kirchen, den Aufbau eines Justizwesens, die Feier von Ritualen oder die Durchführung von Heiligen Kriegen“ (Nexus, 55).

Die Aufzählung zeigt: Zivilisation und Barbarei liegen eng beieinander. Intersubjektive Objekte sind Segen und Fluch zugleich. Einerseits sind sie „die Grundlage für alle Errungenschaften der menschlichen Zivilisation“ (Nexus, 401), andererseits führten sie auch immer wieder zu „Kreuzzügen, Dschihads und Hexenjagden“ (Nexus. 401). Daher spielt es eine große Rolle, wie wir unsere Geschichten erzählen.

 

Jubiläum

Dies vorabgeschickt gehen wir auf das Thema des heutigen Abends zu. An vielen Orten evangelischer Hochkultur wird in diesem Jahr die Johannespassion von Johann Sebastian Bach (1685-1750) aufgeführt. Der Grund ist einfach. Zum einen ist Bach ein herausragender Teil unserer Tradition. Zum anderen hat das Werk Geburtstag: Die Fassung, die bei uns in Hameln am 5. und am 6. April zur Aufführung kommt, entstand vor 300 Jahren. Und Spezialistinnen und Spezialisten wissen, dass es eine erste Version aus dem Vorjahr 1724 gab.

Bach ist in. Im Dezember lief recht erfolgreich ein Film zur Entstehung des Weihnachtsoratoriums an. Er hat gute Chancen, die Reihe der Filme zu verlängern, die regelmäßig zu diesem Fest gezeigt werden. Dies mit einem schönen inhaltlichen Bezug. Und vermutlich setzt er sich durch, obwohl uns Fachleute sagen, dass es im Film Elemente gibt, die historisch nicht ganz korrekt sind, zum Beispiel Weihnachtsbäume in der dort gezeigten Verbreitung.

Allerdings ist Bachs Werk nicht ohne Schatten. Die Johannespassion ist umstritten. Sie enthält antijüdische Elemente.

Und damit kann man unterschiedlich umgehen. Der Weg, den wir in Hameln gewählt haben, setzt auf drei Elemente:

1) Diskurs: In der kommenden Woche laden wir am Dienstag um 19 Uhr zu einer Podiumsdiskussion ein. Unsere Landeskirche und unser Kirchenkreis stellen sich entschieden jeder Form von Judenfeindlichkeit entgegen. Was aber bedeutet dies für antijüdische Elemente in einem Hauptwerk unserer Tradition? Verzichten wir darauf? Kürzen wir die problematischen Passagen? Schreiben wir die Texte um? – Oder gibt es noch andere Lösungen? Das Thema ist dran! Das sieht man auch daran, dass wir ein wirklich hochkarätig besetztes Podium zusammenbekommen haben:
· Prof. Dr. Gerhard Wegner. Er ist der
  Antisemitismusbeauftragte des Landes Niedersachsen.

· Unsere Regionalbischöfin: Dr. Adelheid Ruck-Schröder.
· Der neue Landeskirchenmusikdirektor Benjamin Dippel.

Und aus Hameln:

· Die Rabbinerin der liberalen jüdischen Gemeinde: Dr. Ulrike Offenberg.
· Und der Direktor unseres Theaters: Wolfang Haendeler.

Die Moderation übernimmt der Geschäftsführer der Hanns-Lilje-Stiftung, Prof. Dr. Christoph Dahling-Sander. Das verspricht interessant zu werden. Und es zeigt zugleich, was wir hier besprechen, ist nicht nur unser Thema. Es reicht weit über Hameln hinaus.

2) Aufklärung: Nun vermuten wir, dass vielen auf Anhieb überhaupt nicht klar ist, wo genau das Problem liegt, daher der Vortrag heute. Und wir werden ihn auch auf unserer Webseite zur Verfügung stellen, so können Sie ihn noch einmal nachlesen und müssen nicht mitschreiben. Und er lässt sich auch zur Vorbereitung anschauen, wenn heute keine Zeit ist, persönlich dabei zu sein.

3) Durchbrechung: Bei der Aufführung selbst haben wir den Text von 1725 beibehalten und sie wird – wie schon oft bei Aufführungen auch anderer Stücke in Hameln – mit historischen Instrumenten gespielt. An drei Stellen wird der Fluss der Aufführung durch Zwischenrufe unterbrochen. Auschwitz wird oft als Zivilisations- und Kulturbruch verstanden – daher der Riss im Werk. Verbunden mit der Möglichkeit, Passagen, die aus heutiger Sicht problematisch sind, pointiert einzuordnen und prägnant zu kommentieren. So sind die Zwischenrufe eine Möglichkeit, einer Geschichte, die schon sehr oft antijüdisch erzählt worden ist, eine andere Richtung zu geben. Zugleich bleibt die Komposition in ihrer damaligen Gestalt erkennbar.

 

Johannes

Schauen wir genauer hin. Der Verfasser des Johannesevangeliums war ein äußerst begabter Erzähler. Er kannte vieles, was über Jesus bereits erzählt und geschrieben wurde. Und er fasste es neu. Dies in einer kaum zu überbietenden Kühnheit. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Joh 1,1). „Das Wort wart Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 1,14).

Die Geschichte wird neu und noch einmal erheblich anders erzählt als bei Markus, Matthäus und Lukas. Dabei stoßen wir immer wieder auf sehr pointierte Formulierungen. Zum Beispiel in den Ich-bin-Worten: „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35), „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12), „Ich bin die Tür“ (Joh 10,9), „Ich bin der gute Hirte“ (Joh 10,14), „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25). „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). „Ich bin der Weinstock“ (Joh 15,5).

Der historische Jesus wird das alles nie gesagt haben, sonst wäre es angesichts der Prägnanz in der Wortwahl auch andernorts überliefert. Und doch: Wenn man die Geschichte Jesu ein wenig kennt, kann man gut nachvollziehen, wie Johannes auf diese starken Bilder kommt.

Auffällig ist auch eine erhebliche Häufung von generalisierenden Aussagen über „die“ Juden. Etwa siebzigmal begegnet diese Formulierung im Johannesevangelium. Etwa die Hälfte der Aussagen ist unproblematisch. Wir erfahren zum Beispiel, dass Nikodemus „der Oberschicht der Juden“ (Joh 3,1) entstammt oder dass „ein Fest der Juden“ (Joh 19,21) gefeiert wurde. Und damit kann man leben, auch wenn kollektive Bezeichnungen nie ganz ohne Probleme sind.

Stellen Sie sich vor, es schreibt jemand, das Münchener Oktoberfest, sei „ein Fest der Deutschen“. Da kenne ich zwar nicht nur in Niedersachsen, sondern auch in Bayern Menschen, die das so niemals für sich sagen so würden und sich aufregen, wenn Gäste aus den USA oder Japan dies für typisch deutsch halten. Man könnte allerdings auch das Rockfestival in Wacken als typisch deutsch bezeichnen, - da waren immerhin vor zwei Jahren mehr Menschen als auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg -, oder das Spaghetti-Eis oder den Döner. Und wenn Sie jetzt denken; „Naja!“, dann ist es mir gelungen Beispiele zu finden, wo Sie sagen, das gehört nicht zu meiner Selbstbeschreibung, obwohl ich ein Teil der Gruppe bin, die man zuweilen „die Deutschen“ nennt.

Es gibt allerdings die Formulierung „die Juden“ im Johannesevangelium in Zusammenhängen, die sich in erheblich anderen Kategorien bewegen und die in sich selbst und dann noch einmal mehr in ihrer Wirkungsgeschichte hoch problematisch sind. Zum Beispiel im fünften Kapitel (Joh 5,10-18). Da finden wir eine Heilungsgeschichte. Jesus heilt am Feiertag, ein Thema, das es auch in anderen Evangelien gibt (Mk 3 par.). Bei Markus heißt es nach einer Heilung am Sabbat: „Die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsbald Rat über ihn mit den Anhängern des Herodes, dass sie ihn umbrächten“ (MK 3,6). Bei Johannes lesen wir: „Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte“ (Joh 5,16) und zwei Verse darauf: „Darum trachteten die Juden noch mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater, und machte sich selbst Gott gleich“ (Joh 5,18). Bei Markus gibt es jüdische Gruppen, zum Beispiel die Pharisäer. Auch dies ist eine problematische Verallgemeinerung, weil ja nicht alle Pharisäer qua Gruppenzughörigkeit „mit den Anhängern des Herodes“ in Beratungen eintreten konnten, wie man Jesus umbringen kann. Aber immerhin ist das Bild differenzierter als bei Johannes. Es sind nicht „die Juden“. Und so bleibt erkennbarer, dass es eine innerjüdische Auseinandersetzung ist.

„Die Juden trachten“ im Johannesevangelium, „Jesus zu töten“. Und Jesus begegnet ihnen mit harten Polemiken. Einmal eskaliert eine Debatte um die Abrahamskindschaft in einer Verteufelung. Da sagt Jesus: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Begierden wollt ihr tun“ (Joh 8,44). Das macht jedes weitere Gespräch schwierig. Und hier liegt einer der Gründe, warum der jüdische Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik (* 1947) das Johannesevangelium „den am tiefsten judenfeindlichen Text des Neuen Testaments“ nennt.

Hier und da gibt es bei Johannes auch differenziertere Passagen. Zur Verhaftung macht sich Judas auf mit einer „Schar von Soldaten und Knechten der Hohenpriester und Pharisäer“ (Joh 18,3). Und es sind die Hohenpriester und die Diener, die schreien: „Kreuzige! Kreuzige!“ (Joh 19,6). Und auch den letzten Impuls zur Kreuzigung geben die Hohenpriester (Joh 19,15).

Doch sonst ist stets in einer verallgemeinernden Weise von „den Juden“ die Rede. Es sind „die Juden“, die die Freilassung des Barabbas fordern (Joh 18,38-40). Es sind „die Juden“, die sagen: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben“ (Joh 19,7). Es sind „die Juden“, die Pilatus bedrängen und ihm sagen, seine Freundschaft zum Kaiser sei gefährdet, wenn er Jesus freilässt (Joh 19,12). Es sind „die Juden“, die von den Hohenpriestern und Dienern den Ruf übernehmen: „Kreuzige! Kreuzige!“ (Joh 19,15).

So erscheinen „die Juden“ als ziemlich geschlossene Gruppe im Johannesevangelium. „Die Juden“ murren über Jesus, weil ihnen nicht gefällt, dass er sich das Brot nennt, das vom Himmel gekommen ist (Joh 6,41). „Die Juden“ trachten ihm nach dem Leben (Joh 7,1) und suchen ihn auf dem Fest (Joh 7,11). Sie verbreiten Angst und Furcht. Niemand redet offen aus „Angst vor den Juden“ (Joh 7,13). Und „die Juden“ verstehen nicht, warum sich Jesus so gut mit der Schrift auskennt (Joh 7,14). „Die Juden“ werfen Steine auf ihn, um ihn zu steinigen (Joh 10,31). „Die Juden“ sagen, Jesus sei von einem Dämon besessen (Joh 8,52). Joseph von Arimathäa war heimlich ein Jünger Jesu aus „Furcht vor den Juden“ (Joh 19,38). Und später versammeln sich die Jünger Jesu aus „Furcht vor den Juden“ bei verschlossenen Türen (Joh 20,19). All‘ dies klingt so, als seien Jesus und seine Jünger nicht Teil der Gruppe, die Johannes immer und immer wieder „die Juden“ nennt´.

Etwas anders ist das an nur wenigen Stellen. Zum Beispiel bei Maria und Martha, den Schwestern des verstorbenen Lazarus. Da ist von „den Juden“ die Rede, die in Marthas Haus waren, Es gibt also auch andere. Und diese Juden tun etwas Gutes: Sie trösten (Joh 11,31). Oder es gibt Juden, die streiten untereinander (Joh 6,52), da gibt es also verschiedene Meinungen. Und es gibt Juden, die glaubten an Jesus (Joh 12,11; 11,45). Auch hier eine Differenzierung: Die einen glauben so, die anderen so. Das passt nicht zum sonst fast durchgängigen Bild von „den Juden“, die Jesus nach dem Leben trachten.

Einmal löst eine Predigt von Jesus „Zwietracht im Volk“ (Joh 7,40) aus. Die einen sehen es so, die anderen so. Auch hier eine Abweichung vom meistens so geschlossenen Bild „der Juden“. Und spannend auch ein Vers aus Kapitel 9: „die Juden hatten sich schon geeinigt: Wenn jemand ihn als den Christus bekennt, der soll aus der Synagoge ausgestoßen werden“ (Joh 9,22). Da gibt es also Juden, die Jesus als Christus bekennen, und Juden, die das nicht tun, es sogar als Ausschlussgrund aus ihrer Gemeinschaft sehen. Damit kann man anders umgehen, als wenn alle in kollektiv in eine Schublade gesteckt werden.

Und ein letztes Zitat in dieser Reihe. Nach dem Tod am Kreuz „nahmen sie den Leichnam Jesu und banden ihn in Leinentücher mit Spezereien, wie die Juden zu begraben pflegen“ (Joh 19,40). Im Tod ist der Jesus des Johannesevangeliums sprachlich wieder Teil der jüdischen Gemeinschaft. Es sind nicht nur die Begräbnisrituale „der Juden“, die hier beschrieben werden, es sind auch seine.

 

Mörderische Wirkungsgeschichte

»Die Juden haben Jesus umgebracht« – die Wirkungsgeschichte dieses Motivs ist mörderisch. Der über Jahrhunderte eingeübte Judenhass ist nicht die einzige Spur, die zum Holocaust führt, aber es ist auch alles andere als ein kleiner Seitenweg. Als 1938 in Deutschland die Synagogen brannten, gab der thüringische Landesbischof Martin Sasse (1890-1942) voller antisemitischer Begeisterung einen kleinen Band mit Lutherzitaten heraus, um den – wie er schrieb – „gottgesegneten Kampf“ gegen die Juden zu unterstützen. Er schrieb, jede Synagoge sei „ein Teufelsnest“. Und wer einen Juden sieht, der soll bedenken: „Da geht der leibhaftige Teufel“ (Bendikowski: Himmel, 261). Mir stockt nach wie vor der Atem, wenn ich auf derlei Zitate stoße.

Eine besondere Rolle in der Entstehung dieser aggressiven Narrative kommt der Deutung des Todes Jesu zu. Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928-2002), einer der christlichen Pioniere im christlich-jüdischen Dialog in Deutschland, schrieb hierzu in einer Auseinandersetzung mit der Johannespassion bereits 1998: „Schon lange vor Auschwitz war die Stunde nach dem Karfreitagsgottesdienst nach vieler Christen Sitte eine Stunde von Angriffen auf jüdische Häuser und Familien des Ortes . . ., auch bei uns in Deutschland, nicht nur im finsteren Mittelalter, auch noch im 19. Jahrhundert, mitten im Zeitalter der Aufklärung.“

Und der amerikanische Historiker David Nirenberg schreibt: „In einigen Teilen Europas versammelten sich in der Karwoche Kinder und junge Geistliche zu einem Ritual namens «Judentöten», bei dem sie Steine gegen die Mauern des Judenviertels warfen“ (Antijudaismus, 195).

Und einmal im Originalton Martin Luther: „Christus wird auch heute noch in uns selbst bespuckt, ermordet, gegeißelt und gekreuzigt. Dennoch verschwört sich das Fleisch mit seinen Sinnen rastlos gegen ihn, wie die Welt mit ihren Lüsten und der Teufel mit seinen Versprechungen und Versuchungen, gerade wie sich die Juden gegen den fleischlichen Christus verschworen.“

Was die historische Antwort darauf ist, werden alle hier im Raum wissen. Korrekt heißt es im Apostolischen Glaubensbekenntnis: „Gelitten unter Pontius Pilatus“. Es wird Juden gegeben haben, die am Tod Jesu mitgewirkt haben, andere werden dagegen gewesen sein, und die Mehrheit hatte wahrscheinlich nie Kontakt zu Jesus und seinen Jüngern.

Es ist historisch falsch, dass „die Juden“ Jesus umgebracht haben. Dies übersieht auch, was wahrlich kein Geheimnis ist: Jesus war Jude, seine Jünger waren Juden und der Verfasser des Johannesevangeliums war es mit höchster Wahrscheinlichkeit auch.

Das alles ist schnell beschrieben. Und man hätte es auch schon ohne den Holocaust wissen können. Doch beim Erzählen von Geschichten geht es selten nur um Wahrheit.

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Die Theologie wusste auch im Mittelalter, dass Jesus in der Bergpredigt zur Nächstenliebe aufruft. Und doch kam der französische Inquisitor Jacques Fournier (1285-1342) auf die Idee, die Verbrennung von Ketzern zu einem Akt der Liebe zu erklären, weil sie andere Menschen abschrecke, sich ketzerische Ansichten zu eigen zu machen, und sie damit vor der Hölle bewahrte. Seine Veröffentlichung war zu seiner Zeit derart überzeugend, dass er als Benedikt XII. (1334-1342) Papst wurde.

 

Minderheit und Mehrheit

Nun konnte Johannes nicht wissen, dass die Bilder von „den Juden“, die er in seiner Jesuserzählung zeichnet, eine derart verhängnisvolle Wirkungsgeschichte haben werden. Und wir können nicht genau wissen, warum er das so gemacht hat. Aber es gibt Vermutungen. An einer schon genannten Stelle heißt es: „die Juden hatten sich schon geeinigt: Wenn jemand ihn als den Christus bekennt, der soll aus der Synagoge ausgestoßen werden“ (Joh 9,22). Dieser Ausschluss könnte eine der Gründe für die aggressive Polemik im Johannesevangelium sein.

Stellen wir uns das Jahr 70 n. Chr. vor. Mit der Zerstörung des Tempels verliert das Judentum sein politisches, kulturelles und religiöses Zentrum. Nach der Abfassung des Johannesevangeliums folgen noch weitere Aufstände, die die römische Übermacht nicht abschütteln können (Diaspora-Aufstand 115-117, Bar Kochba Aufstand 132-135). Das Johannesevangelium ist zwischen diesen Zeiten geschrieben. Der Verlust von Tempel und Land liegt hinter ihm. Und die Frage, ob und wie man sich gegen die Römer wehren kann, liegt in der Luft.

Jüdisches Leben gerät in dieser Zeit in vielfacher Hinsicht unter großen Druck. Aus Sicht der jüdischen Mehrheitsgesellschaft ist es wichtig, jetzt möglichst zusammenzuhalten. Das Christentum ist zu dieser Zeit eine jüdische Minderheit. Der politisch so wichtige Zusammenhalt gelingt in diesem Fall nicht. Die christliche Minderheit wird aus der Synagoge ausgeschlossen. So fühlt sich die Kirche, für die Johannes schreibt, doppelt bedrängt und in Gefahr. Einerseits befindet sie sich im Konflikt mit der jüdischen Mehrheit, die in Jesus nicht den Christus, den Messias sieht. Anderseits ist diese Kirche bemüht, von den Römern, die gegen das jüdische Volk Kriege führen, möglichst nicht zu sehr als jüdisch wahrgenommen zu werden. Daher vermutlich die Doppelstrategie der Distanzierung von „den Juden“ und der recht positiven Darstellung der römischen Akteure. Denn viel verständlicher als eine Polemik gegen „die Juden“ wäre Wut auf die Römer, die erst den Christus Jesus kreuzigen und dann auch noch den Tempel zerstören. All‘ dies fließt ein in die Neuformulierung des Evangeliums.

Die Macht dieses Gegners kann man sich gut deutlich machen, wenn man heute in Rom das Kolosseum anschaut. Der größte geschlossene Bau der Antike wurde in den Jahren 72 bis 80 n. Chr. errichtet und in großen Teilen aus der Beute des jüdischen Krieges finanziert. Eröffnet wurde es mit hunderttägigen Spielen bei freiem Eintritt. Zur Unterhaltung und Belustigung der freien Bewohner Roms und des Römischen Reiches wurden unter anderem Gladiatorenkämpfe, nachgestellte Seeschlachten und Tierhetzen geboten. Und gegenüber feiert der Titusbogen auf dem Forum Romanum bis heute den Römischen Feldherrn und Kaiser, der Jerusalem erobert und alles gestohlen hat, was sich bewegen ließ. Es braucht Mut, gegen eine solche Übermacht anzutreten. Und es kann auch klug sein, es lieber zu lassen.

Die Situation der Abfassungszeit des Johannesevangeliums ist dramatisch. Und sie unterscheidet sich erheblich von der politischen Lage zu der Zeit, als der historische Jesus persönlich mit seinen Jüngern im Land unterwegs war. Und dies fließt erheblich mit ein in die Darstellung des Weges Jesu im Johannesevangelium.

Peter von der Osten-Sacken (1940-2022), der über viele Jahre das Institut für Kirche und Judentum in Berlin geleitet hat, beschreibt es so: Hier wird „eine Auseinandersetzung, wie sie erst am Ende des 1. Jahrhunderts zu finden ist, um zwei Generationen in die Zeit Jesu zurückdatiert“ (Johannespassion, 264).

Und die Geschichte entwickelt sich weiter. Das Johannesevangelium ist eine Erzählung über die Welt aus der Perspektive einer Minderheit, die Ende des ersten Jahrhunderts unter einer sie ablehnenden Mehrheit lebt. Dies ändert sich im vierten Jahrhundert. Das Christentum, das sich inzwischen weit von seinen jüdischen Wurzeln entfernt hat, wird Staatsreligion und damit eine Mehrheit mit erheblicher Macht.

Noch einmal Peter von der Osten-Sacken: Spätestens „seit dem 4. Jahrhundert ist die christliche Gemeinde nicht mehr die Minderheit gegenüber dem Judentum, sondern nun selbst in einer wachsenden Übermacht. Sie hat diese Machtposition im Verhältnis zum Judentum in einer oft bedrückenden, teilweise blutigen Weise zur Geltung gebracht. Sie hat sich dabei - und hier beginnen die Dinge auf dem Kopf zu stehen - mit dem Johannesevangelium legitimierend einer Schrift bedient, die aus einer Zeit stammt, in der sie selbst als Minderheit Anfeindungen ausgesetzt war“ (Johannespassion, 265).

Und er fährt fort: „Löst man das Johannesevangelium von seiner Zeit ab und überträgt es ohne Berücksichtigung gravierender Unterschiede dieser Art in die Gegenwart, so ist entsprechend dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet: Es wird zu einem antijüdischen Faktor oder einer antijüdischen Waffe (Johannespassion, 265).

Was mit der Etablierung des Christentums als Staatsreligion geschah, kann man sich gut an der Kirchengeschichtsschreibung des Eusebius von Cäsarea (260-339) verdeutlichen. Er war Zeitzeuge der konstantinischen Wende. Zur Grabeskirche, die Kaiser Konstantin (270-337) errichten ließ, schrieb Eusebius: „Gerade am Grabmahl des Erlösers [wurde] das neue Jerusalem erbaut, jenem altberühmten gegenüber, das nach der schrecklichen Ermordung des Herrn, die Gottlosigkeit seiner Einwohner mit völliger Verwüstung büßen musste“ (Nirenberg: Antijudaismus, 120). Der Tod Jesu als Argument für die Gottlosigkeit nicht der Römer, sondern der jüdischen Einwohner Jerusalems. Die durch die Römer verübte Verwüstung Jerusalems als Strafe für den Mord an Jesus. Der Bau der Grabeskirche als neues Jerusalem. Die Deutung des Todes Jesu als jüdische Waffe in der Hand eines Staates, in der das Christentum zur beherrschenden religiösen Macht wird. (Johann Sebastian Bach)

 

Johann Sebastian Bach

Gehen wir einen Schritt weiter und schauen auf Johann Sebastian Bach. Er hat die Johannespassion vor 300 Jahren komponiert (1724). Er nimmt darin die Passionsgeschichte des Johannes vollständig auf.

In Musik gegossen und damit emotional verstärkt wird das Bild „der Juden“, die unerbittlich damit beschäftigt sind, den Tod Jesu zu fordern und zugleich verhindern, dass Jesus freigelassen wird. Die Juden gehören kompositorisch bei Bach in die Kategorie der Menge, lateinisch „turba“. Ihre Worte sind – wie auch die der Soldaten – chorisch vertont. 12 der 14 Turba-Chöre sind kunstvoll durch musikalische Korrespondenzen miteinander verknüpft.

Die Musikwissenschaftlerin Dagmar Hoffmann-Axthelm (* 1945) schreibt hierzu: Bach habe die traditionelle antijüdische Polemik gezielt aufgenommen, musikalisch zur Geltung gebracht und sich bewusst in diese Tradition eingereiht. (Zitiert nach Osten-Sacken, Johannespassion, 252). Ist dies zutreffend analysiert, so haben wir es bei Bach an diesem Punkt mit einer äußerst problematischen Akzentuierung zu tun.

Immerhin gibt es in dem Werk ein Gegengewicht: Der Choral „Wer hat dich so geschlagen“ verbindet das Verhalten der Christen im Hier und Jetzt mit den Tätern von damals: „Ich, ich und meine Sünden / Die sich wie Körnlein finden / Des Sandes an dem Meer / Die haben dir erreget / Das Elend, das dich schläget / Und das betrübte Marterheer.“

Hier sind es nicht die Juden. Bach deutet an dieser Stelle den Tod so, dass Jesus an uns und unseren Sünden stirbt. Das ist ein erheblicher Unterschied.

Hierbei spielen auch Frömmigkeitsmoden eine große Rolle. Seit dem spätem 16. Jahrhundert setzten sich zunehmend Vertonungen der Leidensgeschichte Jesu für die Gestaltung des Karfreitags durch. Die christliche Erlösungshoffnung wird stark an das stellvertretende Leiden Christi gebunden, was in dieser Konzentration ja keineswegs zwingend ist. Der Münchener Theologe Jörg Lauster (* 1966) schreibt hierzu: „Offensichtlich traf die Vorstellung, die Erlösung müsse durch Leiden und Sterben hindurch geschehen, das Lebensgefühl der Menschen in den Wirren der frühen Neuzeit besonders gut“ (Verzauberung, 395). Und er ergänzt: „Bachs Frömmigkeit ist selbst ein mustergültiges Beispiel dieser Leidensreligion, ihr eilt der Ruf voraus, sie sei »immer dann am schönsten, wenn es um das Sterben und die ewige Ruhe geht“. Albert Schweitzer (1875-1965), dessen 150ster Geburtstag sich in diesem Jahr jährt, urteilte dazu: Bachs ganzes Denken sei »von einem wunderbaren, heiteren Todessehnen verklärt«.

Dies dürfte ein Punkt sein, an dem sich die Frömmigkeit in 300 Jahren noch einmal verändert hat. Allerdings gelangte Bachs Musik nicht nur bei den Themen Tod und Leiden zu ihren Höhen. Huldvoll und fröhlich zelebriert das Weihnachtsoratorium das Triumphale der Menschwerdung. Und hier liegt vermutlich eher als in den Passionsvertonungen der Erfolg Bachs in unserer Zeit begründet.

Hierbei sind Tiefendimensionen unseres Lebens berührt, die sich nur schwer in Worte fassen lassen. Der schon genannte Jörg Lauster aus München beschreibt es so: „In Bachs Musik geht die eigene Welterfahrung und das Erleben auf in der ewig währenden göttlichen Weltordnung, die das Ich zwar erfahren kann, die es aber auch gäbe, wenn dieses Ich nicht wäre. Bach ist darin vielleicht der letzte Mensch vor dem Aufbruch neuzeitlicher Subjektivität in Aufklärung und Romantik. Seine Musik will einen musikalischen Gottesbeweis führen.“ Und weiter: „Die Faszination seiner Musik liegt in dem Ausgriff auf jene göttliche Ordnung, die man schwer denken, kaum glauben, aber offensichtlich doch hören kann.“

Viele Menschen haben im Singen, Hören und Spielen von Bachs Kompositionen religiöse Erfahrungen, die es nur oder doch fast nur hier gibt. Dies macht es schwierig, Kritik an Bach zu üben. Man hat dann leicht das Gefühl, das eigene, sehr persönliche religiöse Empfinden, das in der entzauberten Moderne so schwer zu finden ist, werde in Frage gestellt.


Was machen wir nun damit?

Kommen wir zu der abschließenden Frage: Was machen wir nun heute damit?
Das Thema ist offensichtlich komplex und voraussetzungsreich.

Unsere Landeskirche hat sich 2019 eine Verfassung gegeben. Darin steht an prominenter Stelle (Art 4 Abs 5):

( 5 ) 1 Die Landeskirche ist durch Gottes Wort und Verheißung mit dem jüdischen Volk verbunden. 2 Sie achtet seine bleibende Erwählung und seinen Dienst als Volk und Zeuge Gottes. 3 Im Wissen um die Schuld der Kirche gegenüber Jüdinnen, Juden und Judentum sucht die Landeskirche nach Versöhnung. 4 Sie fördert die Begegnung mit Jüdinnen, Juden und Judentum und tritt jeder Form von Judenfeindlichkeit entgegen.

Eine Verfassung ist ein starkes Instrument für die institutionelle Selbstkorrektur. Es ergibt sich eine Haltung daraus, die unser Handeln heute leitet. Die Kirche, die hier spricht, war früher judenfeindlich. Und sie möchte es heute nicht mehr sein.

Aber wie kann das gehen?

Was die Bibel angeht, sind wir in unserer Kirche besonders an sie gebunden. Der Bewegung ad fontes, zurück zu den Quellen, verdanken wir die Befreiung von erheblichen Irrtümern der katholischen Kirche von vor fünfhundert Jahren.

Bibeltexte erschließen sich durch Auslegung. Das bedeutet, dass wir zum Beispiel das Johannesevangelium an Karfreitag lesen, aber die Aufgabe haben, es auf der Höhe unserer Zeit zu interpretieren. Und diese Zeit verlangt von uns – so sehe ich das –, sehr klare Zeichen gegen jede Form von Antijudaismus zu setzen.

Mit einer Komposition von Johann Sebastian Bach verhält es sich anders. Sie ist eine wiederum klassisch gewordene Interpretation eines Bibeltextes. Während wir den Bibeltext nicht aus der Bibel entfernen können, sind wir frei in der Entscheidung, ob wir dieses Stück aufführen, ob wir es verändern, umschreiben, erklären, diskutieren oder besser etwas Neues komponieren lassen, das aufnimmt, was uns inzwischen wichtig geworden ist. Hierzu dient die Podiumsdiskussion in der kommenden Woche. Und ich denke, es wird wirklich eine Diskussion, denn es gibt unterschiedliche Meinungen zu den hiermit verbundenen Fragen. Dabei geht es nicht darum, sich gegenseitig vorzuwerfen, antijüdisch zu sein. Es geht aber um die Frage, wie wir in unserer kulturellen Gestaltung den Verfassungsauftrag umsetzen, jeder Form von Judenfeindlichkeit entgegenzutreten.

Wenn wir noch einmal den anfänglichen Gedanken von Yuval Noah Harari aufnehmen, so lautet die Grundsatzfrage hinter den Einzelfragen: Wie wollen wir heute unsere Geschichte so erzählen, dass wir aus Fehlern der Vergangenheit lernen?

Manchmal fällt uns das leicht. Zum Beispiel denken wir heute erheblich anders über das Verhältnis von Männern und Frauen als noch vor einigen Jahrzehnten oder zur Zeit Luthers oder der Bibel. Bei unserem Jahresempfang im November haben wir „Der Mond ist aufgegangen“ gesungen. An einer Stelle sangen wir: „So legt euch Schwestern, Brüder, in Gottes Namen nieder.“ Das fühlte sich für alle gut und richtig an, obwohl es eine Veränderung an einem klassischen Text war.

Und etwas zugespitzt: Paulus schreibt im 1. Korintherbrief, die Frau soll in der Gemeinde schweigen (1. Kor 14,33-35). Das sehen wir heute anders. Und zwar auch aus guten biblisch veranlassten Gründen, weshalb es für uns heute normal, richtig und gut ist, dass es Pastorinnen und Pastoren und auch Bischöfinnen und Bischöfe gibt. Und doch bleibt der 1. Korintherbrief Teil der Bibel. Er zeigt uns, woher wir kommen und dass wir eine fortwährend lernende Kirche sind.
 


Erzählungen abwandeln

Geschichte wird - so formuliert es Yuval Noah Harari – „durch intersubjektive Erzählungen gestaltet“ (Nexus, 73). Daher „können wir Konflikte gelegentlich abwenden und Frieden schließen, in dem wir mit Menschen sprechen, ihre und unsere Erzählungen abwandeln und neue erfinden, die für alle annehmbar sind“ (Nexus, 73). Das Wort „erfinden“ ist sicherlich zu steil für unserer kirchlichen Zusammenhänge, da unsere Erzählung von der Welt Elemente enthält, die aus unserer Sicht keine Erfindungen sind. Dazu gehört, dass Jesus wirklich lebte, dass er ein Jude war, dass seine Jünger Juden waren, dass er gekreuzigt wurde, dass sich der Glaube, er sei auferstanden und nicht im Tod geblieben, enorm schnell verbreitete, dass sich Kirchen bildeten, die seine Geschichte weitererzählten.

Über Jahrhunderte wurde diese Geschichte antijüdisch erzählt, Seit einigen Jahrzehnten lernen und üben wir, uns positiv auf das jüdische Volk zu beziehen. Wir wandeln unsere Geschichte ab und entdecken zum Teil neu, was wir schon immer zu kennen meinten. Dabei entsteht ein neues Bild für die Gesamtzusammenhänge. Und manchmal zeigt sich, dass wir den ursprünglichen Bedeutungen näherkommen als zuvor.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!                      Superintendent Dr. Stephan Vasel

Hamelner Kantorei: Choral „Wer hat dich so geschlagen“ (2 Strophen) - (Nr. 11 aus: Johannes-Passion BWV 245.2)