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Einen Krieg vorbereiten um einen Krieg zu verhindern?

Nachricht Hameln, 03. Oktober 2025

Rede von Militärdekanin Dr. Alexandra Dierks auf dem Jahresempfang des Kirchenkreises Hameln-Pyrmont am 25. September 2025 im Hamelner Münster St. Bonifatius

"Die Militärseelsorge ist durch das Beichtgeheimnis verschwiegen", betonte Militärdekanin Dr. Alexandra Dierks in ihrem Vortrag. Foto: Jan Sören Damköhler

Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlichen Dank für die freundliche Einführung und für die Einladung, hier zu sprechen. Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein. Das wundert Sie vielleicht; das Thema ist ja alles andere als vergnüglich. Trotzdem bin ich dankbar, dass Du, lieber Stephan, mich dazu eingeladen hast.

Kurz zu mir: Ich bin 57 Jahre alt, seit 2002 ordinierte Pastorin der Hannoverschen Landeskirche, war Gemeindepfarrerin in Uelzen, Hochschulpastorin in Hannover, seit 2016 bin ich in der Militärseelsorge, zunächst bis 2022 in Wunstorf, und seit 2023 arbeite ich als Referentin im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr in Berlin.

Ich habe Einsätze begleitet in Jordanien und in Litauen. Verheiratet seit 2006 mit Pastor Gerhard Dierks; keine eigenen Kinder, aber 3 Beute-Kinder und 8 Beute-Enkel.

Damit Sie wissen, wer heute hier zu Ihnen spricht.

Ich sagte es gerade: Das Thema ist nicht erfreulich. Aber wir müssen uns damit auseinandersetzen.

Vorbemerkung zur Ausgangsfrage: Einen Krieg vorbereiten, um einen Krieg zu verhindern?

Grundsätzlich gilt: Die Bundesrepublik Deutschland bereitet keinen Krieg vor. Die Mitgliedsstaaten der NATO bereitet keinen Krieg vor. Was derzeit geschieht: Vorbereitung auf einen möglichen Krieg, genauer gesagt auf einen möglichen militärischen Angriff auf NATO-Gebiet.

Das ist ein signifikanter Unterschied. Wer „einen Krieg vorbereitet“, will Krieg führen. Friedrich der Große wollte z.B. Schlesien erobern. Er hat diesen Krieg dementsprechend vorbereitet. Das war politischer Wille. In unseren Zusammenhängen kann ich voller Überzeugung sagen: Niemand bei uns will Krieg führen. Aber uns wird täglich in der Ukraine vor Augen geführt, dass ein europäischer Staat einen Nachbarstaat militärisch angreift. Das, was für uns jahrzehntelang unvorstellbar war, ein Krieg in Europa zwischen zwei Staaten, ist heute wieder schreckliche Realität geworden. Auf so einen schrecklichen Fall müssen die Bündnispartner der NATO sich vorbereiten, wollen sie ihrer Verantwortung gerecht werden, ihre Bürgerinnen und Bürger vor unzulässiger Gewalt zu schützen Alles andere wäre unverantwortlich.

  1. Die Lage

Seit 2014 führt Russland Krieg gegen die Ukraine; seit 2022 so, dass es wir „in einer anderen Welt aufgewacht sind“ (Annalena Baerbock). Russland will die Ukraine als Staat vernichten. Langfristig verfolgt es noch andere Ziele: Das Gebiet des alten Sowjetimperiums zurückzugewinnen, und den Westen so weit zu schwächen, dass er den Eroberungszielen Russlands nichts mehr entgegensetzen kann. Das sind alles Dinge, die Wladimir Putin oder sein Außenminister Sergeij Lawrow seit 2007 immer wieder öffentlich sagen. Nichts davon ist geheim. Und Putins Taten sprechen für sich – er verfolgt seine Ziele sehr klar erkennbar, und offensichtlich mit kompletter Rücksichtslosigkeit.

Russland führt schon lange einen Krieg gegen den Westen, wenn auch bisher mit weitgehend nichtmilitärischen Mitteln. Der Generalinspekteur Carsten Breuer und andere führende Generale drücken es so aus: Wir befinden uns noch nicht im Krieg, aber auch schon lange nicht mehr im Frieden. Die NATO wird aktuell sehr konkret bedroht und getestet durch die Verletzungen ihres Luftraums, und schon länger durch Cyber-Attacken, Sabotage, gesteuerte Migration, Desinformation, Propaganda. Russland rüstet massiv auf. Alle diese Dinge sind bekannt und stehen in der Zeitung. Oder werden in TV-Reportagen berichtet.

Die sicherheitspolitischen Experten sprechen davon, dass Russland die NATO in der näheren Zukunft auch militärisch testet oder sogar angreift. GI Carsten Breuer hat das Jahr 2029 in den Raum gestellt; da waren die Amerikaner allerdings noch voll an Bord. Möglicherweise findet Russland, dass sich ein militärischer Angriff auch schon vorher lohnen könnte.

Seit drei Jahren leistet die Ukraine Widerstand gegen den russischen Eroberungswillen. Es ist deutlich erkennbar, dass niemand in Europa Lust hat, unter Russischer Herrschaft zu leben. Die baltischen Staaten, Polen und andere ehemals zum Ostblock gehörende Länder haben damit reichlich Erfahrung, und sie warnen nachdrücklich davor. Was in den eroberten Gebieten in der Ukraine passiert, ist grauenvoll. Und auch in Russland selbst herrscht Gewalt. Egal wieviel Sympathien man persönlich vielleicht für die russische Sprache und Literatur hegt – niemand wird behaupten, dass Russland ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat sei. In Russland herrscht Gewalt.

Es ist also keine politisch verantwortbare Option, eine russische Eroberung, z.B. eines baltischen Staates wie Litauen, einfach geschehen zu lassen. Wenn die Staaten des Westens, der EU, der NATO, weiter als freiheitliche, demokratische Rechtsstaaten existieren wollen, dann werden sie sich gegen Angriffe zur Wehr setzen müssen.

Im Prinzip hatten die Mitgliedsstaaten der NATO das schon 2014 öffentlich anerkannt, Stichwort: 2%-Ziel; aber an der Umsetzung haperte es. Inzwischen ist das Bewusstsein für die Gefahr deutlich gewachsen, und dementsprechend investieren jetzt alle Staaten verstärkt in ihre Rüstung und den Ausbau ihrer Streitkräfte.

Das gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland. Die Hoffnung, die dahinter steht: Abschreckung. Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen. Sich verteidigen können, um sich nicht verteidigen zu müssen. Oder, etwas anders ausgedrückt: The only way to secure peace is to make the prospect of war hopeless (Tommy Shelby).

Der Hintergrund für die massive Erhöhung der Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit in allen Ländern der NATO ist die Hoffnung, Russland abschrecken zu können. Darum geht es. Abschreckung. To make the prospect of war hopeless.

  1. Friedensethische Fragen

Die neue Lage erfordert natürlich auch neue friedensethische Reflexionen. Wer die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 liest, der erkennt ziemlich schnell: Die Zeiten haben sich spürbar geändert. Etwas verkürzt gesagt: Damals ging man maximal noch von „Stammeskriegen“ aus. Die Größenordnungen waren Hutus gegen Tutsi, Albaner gegen Serben; Taliban, Al Quaida, IS usw. mit terroristischen Anschlägen überall gegen Andersgläubige usw. Das Bild der militärischen Intervention war demnach so etwas wie Eltern im Kinderzimmer. Man hält die Streitenden auseinander, bis sie soweit sind, ihre Konflikte selbst gewaltfrei miteinander zu lösen.

Die Implikation war dabei immer: Konflikte entstehen aus kollidierenden Interessen, aus Knappheit von Gütern, spezifischen, aber begrenzten Gebietsansprüchen, ggf. noch aus ethnischen oder religiösen Gegensätzen. Die Vorstellung dahinter war, dass man eigentlich alles friedlich und politisch müsste lösen können. Militärische Gewalt galt entweder als Politikversagen bei den Konfliktbeteiligten oder bei dritten Parteien als legitim zur Konfliktunterbrechung. Siehe z.B. die Präsenz der Bundeswehr im Kosovo seit 1999.

Dabei war immer vorausgesetzt: Deutschland kann wählen, ob es sich an einer militärischen Intervention beteiligt oder nicht. Und das zweite: Die westlichen Mächte sind den anderen, kleineren Ländern oder Ethnien oder Gruppierungen immer militärisch überlegen.

Außerdem wurde immer geradezu axiomatisch vorausgesetzt: Krieg ist etwas so Furchtbares, das kann keiner wollen. Krieg ist immer das Ende eines bedauerlicherweise versagenden politischen Prozesses und eine Katastrophe.

Und für die Beteiligten ist das ja auch so. Für die Zivilbevölkerung, aber auch für die beteiligten Armeen ist Krieg eine absolute Katastrophe. Das sehen wir täglich in der Ukraine. Das kann man gerade im Sudan beobachten. Aktuell eine der schlimmsten humanitäre Katastrophe auf diesem Planeten, von anderen kaum beachtet. Absolut entsetzlich.

Was wir dabei seit Jahrzehnten übersehen haben: Es kann trotzdem sein, dass Machthaber den Krieg wollen. Bashar al Assad wollte Krieg in Syrien und hat ihn absichtsvoll geführt. Und Wladimir Putin wollte und will den Krieg gegen die Ukraine, und es steht zu befürchten, dass er auch einen Krieg gegen die NATO will – jedenfalls dann, wenn er sich Erfolgschancen ausrechnet. Sowas hatte die EKD 2007 nicht auf dem Schirm.

Inzwischen ist es aber auf dem Schirm. Deswegen kommt demnächst eine neue EKD-Friedensdenkschrift heraus, die sich mit den Implikationen der aktuellen Lage befasst. Das Leitbild des Gerechten Friedens bleibt natürlich unverändert gültig. Aber hinzu kommen z.B. Gedanken zur Pflicht des Staates, die eigenen Bürger zu schützen – eben auch vor militärischer Bedrohung; zum Umgang mit der Tatsache, dass es wieder Staaten gibt, die ihre geopolitischen Interessen mit militärischer Gewalt durchsetzen wollen. Anders als früher kann es sein, dass es keine freie Wahl gibt, sich an einem Konflikt zu beteiligen; auch die noch 2007 vorausgesetzte militärische Überlegenheit gibt es nicht mehr. Selbstverständliche Lufthoheit gibt es nicht mehr.  Russland gilt unter Sicherheitsexperten als militärischer „peer“, also ein ebenbürtiger Gegner. All das ist neu zu bedenken. Im November kommt die neue EKD-Denkschrift heraus.

Was wir als Kirche in jedem Fall wahrnehmen müssen: Schon jetzt, aber in einem Verteidigungsfall erst recht, haben wir es mit großem Leid zu tun. Wenn es tatsächlich zu einem militärischen Konflikt zwischen Russland und der NATO kommen sollte – und wir hoffen und beten, dass es nicht so weit kommt – dann wäre es in sehr vielen Hinsichten fürchterlich. Und darauf sollten wir vorbereitet sein.

  1. Die Militärseelsorge und ihre Rolle

Kurze Information: In Deutschland gibt es z. Zt. evangelische, katholische und jüdische Militärseelsorge. In anderen Ländern kann das auch anders aussehen – z.B. gibt es in Schweden und Dänemark nur lutherische Militärseelsorge; in Belgien und den Niederlanden gibt es auch humanistische usw. In jedem Land hat das viel mit der jeweiligen Geschichte zu tun, wie das organisiert ist.

Wie zu Anfang bereits gesagt: Seit 2016 bin ich in der Militärseelsorge. Und ich kann sagen: Für mich ist es eines der schönsten kirchlichen Arbeitsfelder überhaupt. Der Hauptgrund dafür ist: Wir sind bei den Menschen im Dienst. Kirchlicher Dienst in der besonderen Arbeitswelt. Kirchliche Gemeindearbeit findet ja weitgehend im Freizeitbereich statt, übrigens auch die Hochschulseelsorge; aber in der Militärseelsorge sind wir bei den Menschen im Dienst.

Das ist unsere Aufgabe. Das ist unsere Rolle. Da sein, wo Soldatinnen und Soldaten sind; dabei sein, Zeit haben, zuhören, helfen. Es ist ein Dienst der Präsenz.

Natürlich machen wir ganz klassisch Gottesdienst, Seelsorge, Lebenskundlichen Unterricht und Rüstzeiten. Natürlich verkündigen wir das Evangelium. Aber sehr oft passiert das eher indirekt, oder erst, wenn wir einem Soldaten zum dritten Mal aus einer problematischen Situation geholfen haben.

Als Militärseelsorge sind wir vor Ort vernetzt mit dem Psychosozialen Netzwerk (PSN), d.h. mit dem Sanitätsdienst, der Truppenpsychologie, dem Sozialdienst, und erforderlichenfalls auch mit den Lotsen für Einsatzgeschädigte. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass wir alle zusammenarbeiten können, wenn jemand Probleme hat. In der Regel haben die Menschen ja nicht nur ein isoliertes Problem, sondern multiple, miteinander verbundene, einander verstärkende Problemlagen. Das gilt für alle Menschen überall, in der zivilen Welt und in der Bundeswehr. In der Bundeswehr kriegen wir das aber schneller angefasst, weil wir alle zugleich mit derselben Person arbeiten können.

Besondere Erfahrungen haben wir nach über dreißig Jahren der Einsatzbegleitung inzwischen mit Einsatzschädigungen gemacht, mit Traumatisierungen, Traumafolgestörungen und allem, was das in Mitleidenschaft zieht. Wenn jemand an einer Traumafolgestörung leidet, dann betrifft das meist nicht nur den einzelnen Soldaten (die allermeisten sind tatsächlich Männer), sondern insbesondere seine Familie und sein näheres Umfeld. In der evangelischen Militärseelsorge gibt es dafür ASEM, wo wir uns ganz speziell um Traumatisierte kümmern.

Zu den Traumafolgestörungen gehören auch moralische Verletzungen, „Moral Injury“. Damit ist gemeint: Erlebnisse oder Taten, auch eigene, die das eigene Wertesystem, das innere moralische Gefüge, zutiefst verletzen. Das ist eine Traumatisierung sehr eigener Art, und wenn man sie nicht adressiert, wirkt keine Traumatherapie. So weit sind wir inzwischen, dass wir das wissen. International wird intensiv daran gearbeitet, wie man auf heilsame Weise mit Moral Injury umgeht.

Die Militärseelsorge spielt hier eine durchaus wichtige Rolle. Zum einen: Wir sind absolut verschwiegen. Stichwort: Beichtgeheimnis. Wir melden nichts. Was uns erzählt wird, kann komplett folgenlos bleiben, wenn der Soldat das so wünscht. Dadurch entsteht der Freiraum, uns von Dingen zu erzählen, die man sonst noch niemandem erzählen konnte.

Zweitens: Wir sind nicht Teil der Hierarchie. Das ist eine Besonderheit der deutschen Militärseelsorge: Wir sind komplett zivil, ohne militärischen Rang, ohne militärischen Dienstweg. Wir waren und sind nie Teil einer Befehlskette. D.h., was immer irgendwo passiert ist – wir haben dienstlich damit nichts zu tun. Wir sind außen vor, und daher neutral. Wir sind auch Rang-neutral. Jeder spricht mit uns auf Augenhöhe. Das unterscheidet die deutsche Militärseelsorge von vielen anderen in der Welt.

Diese besondere Rolle ist eine Konsequenz aus der deutschen Geschichte. Die Männer um Wolf Graf von Baudissin, die seit Anfang der 1950er Jahre die Konzepte schrieben für das, was dann die Bundeswehr werden sollte, die haben das, auch in Gesprächen mit der Kirche, mit Absicht so festgelegt: Die Militärseelsorge als innere Sollbruchstelle. Der Militärseelsorger als freie Stimme des Gewissens, niemandem verpflichtet, von niemandem abhängig, ohne eigene Aktien. Natürlich sind wir der Führung auf vertrauensvolle Zusammenarbeit zugeordnet, aber wir nehmen keinerlei Befehle entgegen, und wir werden weder beurteilt noch befördert. Dadurch entsteht eine große Freiheit für unsere Arbeit.

Natürlich heißt das nicht, dass wir uns aufführen können wie die sprichwörtliche Axt im Walde. Wir haben zwar jederzeit Vortragsrecht bei jedem militärischen Vorgesetzten – trotzdem machen wir höflicherweise einen Termin, wenn es jetzt nicht superdringend ist.

Eine Funktion, die wir im Auftrag der Truppe erfüllen, ist die ethische Bildung, und der Ort dafür ist der Lebenskundliche Unterricht. Den erteilen traditionell vor allem die Militärseelsorger. Vor allem, weil es für die Truppe relativ einfach ist. Bei uns weiß man, womit man zu rechnen hat; unser Wertegerüst ist bekannt, unser ethischer Kompass ist relativ klar kalibriert, und die Bundeswehr findet, dass das der richtige Kompass ist für ihre Soldaten.

Der LKU leistet dadurch unter anderem einen Beitrag zur Prävention von Moral Injury. Weil es hier möglich ist, in einem geschützten Raum ehrlich über ethische Grenzfragen und Probleme zu sprechen, bestimmte Dilemma-Situationen zu durchdenken und zu eigenen Konsequenzen zu kommen.

Wir haben auch Erfahrungen mit Themen, die viele ungern ansprechen, die aber immer dazu gehören: Verwundung und Tod, Umgang mit sterbenden Kameraden, Umgang mit Trauer, Vorbereitung auf den eigenen Tod usw. Wir Militärseelsorger sind mit dem Tod vertraut, wir haben in unseren Vorverwendungen in der Regel jahrelang 2-3x / Woche auf dem Friedhof gestanden, haben Sterbende und Trauernde begleitet; wir kennen das Gebiet.

Dieses Thema wird gerade sehr virulent angesichts der befürchteten künftigen Lage.

  1. Vorbereitung auf einen möglichen Verteidigungsfall

Die Bundeswehr passt sich seit 2023 erkennbar an die veränderte geopolitische Lage an. Dazu gehört auch die Vorbereitung auf einen möglichen Bündnis- bzw. Verteidigungsfall. Wie gesagt, alle in der Bundeswehr hoffen und beten, dass der nicht eintritt. Aber wenn Russland NATO-Gebiet angreifen sollte, dann darf die Bundeswehr, dann darf Deutschland nicht unvorbereitet dastehen und sagen: Das ist ja jetzt doof, darauf sind wir jetzt gar nicht eingestellt.

Es geht um die Resilienz unserer gesamten Gesellschaft, und dazu gehört als ein sehr wesentlicher Faktor, aber natürlich nicht als einziger, die militärische Verteidigung.

Die Militärseelsorge ist auf vielfältige Weise von diesen Vorbereitungen betroffen oder auch aktiv daran beteiligt.

  1. Die Battlegroups an der NATO Ostflanke

Ein Element der Verteidigung ist die verstärkte Präsenz von Truppen an der NATO Ostflanke. Dort gibt es inzwischen acht Battlegroups, von Estland im Norden bis Bulgarien im Süden.

Alle diese Battlegroups sind multinational organisiert. In allen werden die Truppen auch durch ihre jeweilige Militärseelsorge begleitet. Es gehört zur Vorbereitung auf den Ernstfall, die Truppen auch bei sehr gefechtsnahen Übungen zu begleiten. Und es gehört dazu, sich vor Ort mit den anderen Militärseelsorgen zu vernetzen und mit ihnen zusammenzuarbeiten.

  1. Logistik und Verluste

Niemand weiß genau, wie ein mögliches Kriegsgeschehen aussehen würde, aber es gibt bestimmte Elemente, von denen allgemein ausgegangen wird. Dazu gehört, dass Deutschland aufgrund seiner geographischen Lage ein besonderer Ort für Truppenbewegungen sein wird. Hier in Deutschland laufen dann vermutlich alle durch – die Alliierten von West nach Ost, die Verwundeten, die Toten, die Fliehenden von Ost nach West. Deutschland wird voraussichtlich kein „Frontstaat“ im geographischen Sinne sein, aber Ziel von Angriffen auf die Infrastruktur, und es wird der Ort sein, wo viele Menschen ankommen, die Hilfe brauchen.

Irgendjemand wird sich um diese Menschen kümmern müssen

Zur Vorbereitung auf diese Situation hat die Kirchenkonferenz der EKD den Auftrag gegeben, gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz ein Rahmenkonzept zu erarbeiten, das die Aufgaben und Zuständigkeiten definiert, damit hier dann auch klar ist, wer sich kümmert – um die Verwundeten, um die Gefallenen, um deren Familien; um Geflüchtete aus den Kriegsgebieten, um möglicherweise vorhandene Kriegsgefangene usw.

Dieses Rahmenkonzept wurde kürzlich von der KiKo angenommen, die Deutsche Bischofskonferenz ist dabei. Anfang September an die Kirchenleitungen und andere Beteiligte, z.B. Notfallseelsorgen, Krankenhausseelsorgen usw. versandt.  Der Sinn des Ganzen ist, nichts Neues zu erfinden, sondern vorhandene Ressourcen und Strukturen sinnvoll zu nutzen und miteinander zu vernetzen und Zuständigkeiten abzusprechen. Dazu müssen alle, die erforderlichenfalls zusammenarbeiten werden, voneinander wissen. „In der Krise Köpfe kennen“, nennt das ein Kollege von mir.

Die Militärseelsorge wird da bestenfalls unterstützend tätig sein können, denn wir sind dann nicht mehr hier. Wir werden bei den Kampfverbänden sein – wo immer das sein und was immer das dann bedeuten mag.

  1. Womit wir rechnen

Noch einmal: Niemand kann genau voraussagen, wie ein etwaiger Kriegsfall wirklich aussehen wird. Aber mit bestimmten Elementen ist zu rechnen:

Wir werden international vernetzt unterwegs sein. Die Kampfverbände werden multinational und natürlich auch multireligiös aufgestellt sein. D.h. für die Militärseelsorgen: Wir werden deutlich intensiver kooperieren als jemals zuvor. Ggf. werden wir einander auch international und womöglich religionsübergreifend vertreten müssen. Dazu wird gerade intensiv daran gearbeitet, die Militärseelsorgen international verstärkt miteinander zu vernetzen und ihre Interoperabilität zu steigern. Ich bin selbst direkt in diese Prozesse involviert. Das ist ziemlich komplex, weil jede Militärseelsorge eine ganz eigene Struktur und Geschichte hat. Und grundsätzlich bleibt Militärseelsorge natürlich die Zuständigkeit der jeweiligen Nationen. Aber wir erarbeiten gerade alle möglichen Wege, wie wir besser kooperieren und einander ggf. unterstützen können.

Aus dem, was die Ukrainer tun, können wir für die Militärseelsorge ableiten: Militärseelsorger werden vermutlich nicht direkt im Kampfgebiet sein, aber vermutlich dahinter, und vermutlich in den Feldlazaretten. Und wir werden es mit hohen Zahlen an Casualties, d.h. schwer Verwundeten und Gefallenen, zu tun bekommen.

Im Ukrainekrieg sind nach vorsichtigen Schätzungen der NATO inzwischen ca. 300 000 Angehörige der russischen Streitkräfte gefallen oder schwer verwundet worden. Das bedeutet: ca. 270 pro Tag; vermutlich eher mehr. Auf ukrainischer Seite dürften die Verluste aktuell bei ca. 100 000 liegen. Das sind alles nur Schätzungen; offizielle Daten gibt es nicht.

Das sind unfassbare Zahlen. Zum Vergleich: In 20 Jahren Afghanistan hatten die Amerikaner ca. 2000 Tote. Die Bundeswehr hat 60 Soldaten verloren. Jeder einzelne ist einer zuviel. Und wenn man wissen will, was es bedeutet, wenn ein Soldat fällt, dann empfehle ich einen Besuch im Wald der Erinnerung in Schwielowsee. Es bricht einem das Herz, was man da sieht.

Es sprengt unsere Vorstellungskraft, wie wir damit umgehen sollen, wenn womöglich jeden Tag mehrere hundert Soldaten fallen. Aber das ist derzeit die Wirklichkeit in der Ukraine. Und sollte es zum Krieg zwischen Russland und der NATO kommen, dann müssen wir damit rechnen, dass auch die westlichen Alliierten extrem hohe Verluste erleiden werden; auch die Bundeswehr.

Als Militärseelsorge werden wir uns um die Sterbenden und Gefallenen kümmern müssen, aber natürlich auch um die, die noch am Leben sind und Kameraden haben sterben sehen. Das wird unfassbar schwer werden. Wir lernen da gerade sehr viel von den ukrainischen Kollegen und Kolleginnen. Wie die ihre Aufgabe verstehen, was die für Erfahrungen machen, wie die mit den unglaublichen Belastungen umgehen, und wie sie versuchen, dazu beizutragen, dass die Soldaten trotz allem Menschen bleiben.

Denn das ist eine der Hauptaufgaben der Militärseelsorge im Kriegsfall: Mitzuhelfen, dass die Soldaten menschlich bleiben. Dass sie nicht vergessen, dass auch die Gegner Menschen sind. Deswegen ist ein sorgsamer Umgang mit Gefallenen wichtig; deswegen ist ein liebevoller Umgang mit Sterbenden wichtig; deswegen sind geschützte Räume wichtig, wo man um Kameraden trauern kann. Damit immer klar bleibt: Wir sind Menschen, und wir wollen es bleiben.

  1. Beten um Frieden

Wie gesagt, niemand weiß, wie ein Krieg dann wirklich aussehen würde, wenn er tatsächlich kommen sollte.

Ich habe immer noch die Hoffnung, dass er sich noch abwenden lässt.

Eine meiner Bitten, wenn ich solche Vorträge halte, ist immer: Betet mit uns für den Frieden. Betet bitte mit uns für den Frieden.

Eine zweite Bitte ist: Stärkt die Resilienz. Die eigene, persönliche, und, wo ihr die Möglichkeit habt, die unseres Landes.

Wenn die westlichen Staaten stark sind, wenn die Staaten der NATO oder der EU gut gerüstet sind, wenn unsere Länder bereit sind, ihre freiheitlichen Demokratien entschlossen zu verteidigen, dann gibt es hoffentlich eine Chance, dass Russland von einem Angriff absieht.

Denn darum geht es am Ende: Dass es gar nicht erst so weit kommt.
Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen.
Sich verteidigen können, um sich nicht verteidigen zu müssen.
Entschlossen defensiv, und defensiv entschlossen zu sein.
Wir als Militärseelsorge hoffen und beten inständig, dass das hilft. Ich danke Ihnen. Dr. Alexandra Dierks